Sam Dzong – Ein Dorf zieht um
Seite Mitte Mai 2015 existiert auf der Landkarte des Himalaya ein neues Dorf. Die Bewohner mussten ihre alte Heimat aufgeben – aus einem Grund, den sie nicht verstehen. Das Wort «Klimawandel» fehlt in ihrem Wortschatz.
Text: Christian Schmidt
Kurz nach zehn Uhr taucht die kleine Karawane endlich auf, nimmt die letzte Biegung des Passes und nähert sich Namashung; mit zwei Stunden Verspätung. Es ist eine beinahe biblische Prozession. Als seien die Könige unterwegs, um dem Kleinkind in der Krippe zu huldigen. Stolz sitzen die Reiter auf ihren Pferden, gemessenen Schrittes kommen sie daher, in ihren schönsten Kleidern. Die Männer tragen mit Fuchspelz verbrämte Hüte, Seidenhemden, schwarze Hosen und verzierte Lederstiefel. Die Jacke des Dorfvorstehers schmücken gar Bordüren aus dem Fell eines Schneeleoparden, in der Hand trägt er Pfeil und Bogen. Die Frauen zeigen sich in traditionellen Tchubas, darüber an langen Winterabenden gewobene Schürzen in leuchtenden Farben, in den Haaren grosse Türkise. Es ist der 19. Mai 2015. Die Bewohner des Dorfes Sam Dzong, die «Sam Dzong Ngas», wie sie sich nennen, treffen ein zur Einweihung ihrer neuen Heimat namens Namashung, in der nördlichsten Ecke des ehemaligen Königreichs Mustang, heute zu Nepal gehörend, 3‘800 Meter über Meer.
Die Prozession erreicht die ersten Häuser von Namashung und stoppt schliesslich vor Lama Ngawang und Manuel Bauer. Lama Ngawang, der buddhistische Mönch in roter Robe, auf dem Kopf Polocap und Sonnenbrille, wird die Einweihungszeremonie leiten. Und Manuel Bauer, der Schweizer Fotograf in seiner gelben Outdoor-Jacke, wird sie dokumentieren. Doch die beiden sind weit mehr als nur Zeremonienmeister und Fotograf. Seit Jahren arbeiten sie auf diesen Moment hin; das neue Dorf ist ihr gemeinsames Werk. Jetzt ist es endlich soweit, Namashung kann eingeweiht werden. «Unglaublich!» sagt Manuel Bauer. Mehr bringt er nicht heraus. Lama Ngawang schweigt. Sehr unüblich für ihn; sonst ist er nie um eine treffende Bemerkung verlegen.
Namashung, das ist eine zehn Hektaren grosse Ebene am Ufer eines kleinen Flusses, eine gute Pferdestunde von Lo Manthang entfernt, dem Hauptort Mustangs. Sie liegt mitten in einer Landschaft, die Karl May zu weiteren Meisterwerken inspiriert hätte. Am Horizont leuchtet der weisse Rücken der Annapurna, davor Fünf- und Sechstausender, als seien sie Küken unter den Flügeln des Himalaya-Riesen. Es ist eine Felsenlandschaft von bizarrer Schönheit und abschreckender Einsamkeit, leuchtend in schwarz, gelb, braun, rot und weiss. Vor wenigen Tagen haben heftige Erdbeben Nepal durchgeschüttelt, beinahe 9‘000 Menschen das Leben gekostet und Teile des Landes um einen Meter seitlich verschoben, hier oben glücklicherweise aber nur geringe materielle Schäden angerichtet.
Es ist nicht lange her, da war Namashung nichts als eine graue Ebene, begraben unter hunderten von Findlingen. Das Plateau sah aus, als hätte eine Armee von Galliern hier ihre Hinkelsteine deponiert; entsprechend war der Boden unbrauchbar. Unmöglich, in diesem Niemandsland zu leben. Doch inzwischen sind die Findlinge verschwunden, das Plateau ist seit dem Sommer 2014 fertig terrassiert. Gerste soll hier künftig wachsen, das wichtigste Getreide in Mustang, auch Buchweizen und gelbblühender Senf, dazu Kartoffeln, Rettich und Spinat. Namashung soll wieder werden, was der Flurname besagt: eine «grüne Ebene», eine Oase in der Einöde. Ziegen und Pferde werden auf den Hügeln weiden und am Abend, wenn es Zeit ist, von alleine zu ihren Pferchen zurückzukehren.
Und am Rande des Plateaus, an die Flanke des nächsten Hügels geklebt, leuchtet jetzt eine Reihe weisse Häuser in der Sonne. Hier werden die 85 Sam Dzong Ngas künftig leben. Noch ist das Dorf nicht ganz fertig gebaut, aber das ist egal. Wichtig ist, dass die Einweihung genau heute stattfindet. Ein Aufschub wäre ungut; denn der tibetisch-astrologische Kalender besagt klar: Der 19. Mai ist der beste Tag, das Element Feuer zeigt sich gleich zwei Mal. Das verheisst reiche Ernten und Wohlstand. Eine solche Chance gilt es zu nutzen. Hier oben, wo das Leben härter und der Tod näher ist als anderswo, nutzt man besser die Gunst aller überirdischen Kräfte.
Als Manuel Bauer 2008 zum ersten Mal in diese abgelegenste Ecke Asiens fand, hatte er vor kurzem seine Stellung als offizieller Fotograf des Dalai Lama aufgegeben. Fünf Jahre lang hatte er den obersten tibetischen Würdenträger auf seinen Reisen für den Frieden begleitet und ihn so nahe erlebt wie wenig andere. Nun war er auf der Suche nach einem neuen Thema, das ihn nicht nur als Fotograf, sondern auch als Mensch, herausforderte. Doch nach Mustang war er eigentlich nur gereist, um diese Einsamkeit zu sehen. Sie ist vom 21. Jahrhundert, aber auch vom 20., noch weitgehend unberührt. Im Norden des Himalaya liegend, führt der Weg in das einstige Königreich durch eine Schlucht mit senkrechten Wänden. Es ist das Tal des Kali Gandaki, manche bezeichnen es als das tiefste Tal der Welt. Wie ein Keil spaltet der Fluss die Kette der Achttausender und verbindet die Niederungen Nepals mit der Hochgebirgslandschaft.
Aber kaum war Manuel Bauer angekommen, weckte ihn eines Nachts heftiges Klopfen. Vor der Türe seiner Herberge standen drei Männer. Sie rochen nach Pferd und Ziege, trugen gefälschte North Face-Jacken, darunter Pullovers mit der Aufschrift «London London» oder «Fantastic». Aus ihrem Hosenbund ragten lange Dolche, und ihre Füsse steckten in Stiefeln mit Camouflagemuster oder Schuhen, die einmal Turnschuhe gewesen waren. Ihre Fingernägel waren so schwarz wie ihre Augen.
Auf verschlungenen Wegen war zu ihnen gedrungen, dass in Mustang ein Mann weilte, der dem Dalai Lama so nahe stand, dass er ihn im Unterhemd gesehen hatte. Also musste er wichtig sein und Einfluss haben, also war er für sie, Buddhisten tibetischer Abstammung, zweifellos der richtige, um ihre Verzweiflung darzulegen.
Sie seien aus Sam Dzong, einem kleinen Dorf abgelegener als alle anderen Dörfer Mustangs, sagen die Männer. Noch nie ist das Geräusch eines Motors in ihr Tal gedrungen. Die Kinder können weder Schreiben noch Lesen, weshalb auch, in Sam Dzong sind solche Kenntnisse nicht gefragt, ebenso wenig, wie man mit Geld umgeht: Es gibt nichts zu kaufen. Arm seien sie, erklären die Männer, aber trotzdem ohne Grund zu klagen. Jeden Frühling säen sie aus, und wenn das Getreide reif ist, fallen die gelben Halme unter dem Schwung ihrer Sicheln. Zu all ihren Arbeiten singen sie, Tag für Tag erhalten die Götter etwas Reis, damit alles so weiter geht. Nur der Schneeleopard stört manchmal diesen Frieden. Er schleicht in der Dunkelheit ins Dorf, springt von Hofmauer zu Hofmauer, bis er jene junge Ziege entdeckt, die er dann zu seiner Beute macht. Das Dorf, versteckt am Fuss brauner Felsen, sei ein kleines Universum für sich, ein Leben in friedlicher Bescheidenheit. Jedenfalls sei das so gewesen. Bis 1983.
Tashi Tsering, einer der ältesten Einwohner Sam Dzongs, kann sich so genau an das Jahr erinnern, weil damals seine zweite Tochter geboren wurde. «Ende Winter schmolz der Schnee früher als sonst, so früh, dass die Felder noch nicht bereit waren.» Aber er schmolz auch schneller. Weshalb der Fluss im Tal von Sam Dzong nicht wie üblich als schmales Band in seinem Bett mäandrierte, er wandelte sich zum reissenden Strom und schwemmte die fruchtbare Erde fort. Auch im Sommer war das Wetter anders, in diesem wie auch im nächsten und übernächsten, ja, plötzlich schien das die neue Regel zu sein. Hier, im Regenschatten des Himalaya, gingen plötzlich wütende Gewitter nieder. Hagel zerschlug die Ähren. Von den Felsen über dem Dorf schossen Sturzbäche in die Tiefe. Wenn die Menschen hinausrannten, um das wilde Wasser in Gräben zu leiten, wurden sie von Steinen getroffen. Sie fürchteten um ihr Leben, weshalb der Dorfvorsteher jeweils seinen Tanz begann, um die Götter zu beschwichtigen. Umgeben von Weihrauchwolken, stellte er sich in die prasselnden Tropfen, betend und singend. Das half, aber nicht immer.
Und wenn es nicht regnete, dann schien über Sam Dzong die Sonne so lang und so heiss wie noch nie. Über Wochen, gnadenlos ausdauernd, bis der Fluss kein Wasser mehr führte und sich ein Netz hässlicher Risse über die Erde legte. Jedes Jahr verloren sie weitere Felder, weil sie den Boden nicht mehr genügend bewässern konnten und weil dort, wo bis anhin fruchtbare Erde gelegen hatte, nun Steine und nackter Fels glänzten. Im Herbst mussten die Menschen in Sam Dzong jeweils feststellen, dass der Ertrag der Felder wieder nicht reichen würde. So etwas hatten sie noch nie erlebt.
Nachdem sie diese Veränderungen dreissig Jahre beobachtet hatten, erkannten sie, was unweigerlich auf sie zukam: das Ende ihrer Zeit in Sam Dzong. Sie brauchten ein neues Zuhause, in einem anderen Tal mit einer sichereren Wasserversorgung. Aber sie verstanden den Grund nicht, der sie dazu zwang. Das Wort «Klimawandel» fehlte in ihrem Wortschatz.
17. Mai. Noch zwei Tage bis zur Einweihung. Ein grosser Tag, Namashung beginnt zu leben. Ein Traktor hat in einer tagelangen Reise die Kochherde für die neuen Häuser gebracht. Im feuchtheissen Tiefland Nepals wurden sie geladen, dann fuhr der Traktor entlang des Flussbetts des Kali Gandaki, wo Versteinerungen die Vergangenheit des Tals als Meeresboden beweisen, heute liegt der Fluss 3‘000 Meter höher. Dann schraubte er sich auf einer Staubpiste entlang klaffender Abgründe in die Höhe, um schliesslich Namashung zu erreichen. Die Herde sind die Kopie eines chinesischen Modells, was alle belustigt. Mustang grenzt direkt an Tibet, von hier aus wurde das Königreich einst besiedelt, doch seit mit dem Karmapa einer der wichtigsten tibetischen Würdenträger via Mustang nach Indien floh, öffnet China die streng bewachte Grenze nur noch zwei Mal im Jahr, was die seit Jahrtausenden bestehenden Handelsbeziehungen verunmöglicht. Entsprechend freut man sich, dem grossen Nachbarn und Kopisten wenigstens so ein Schnippchen zu schlagen.
Die Männer tragen die Herde in die Küchen, die Frauen folgen mit den Ofenrohren, und so bewegt sich eine Prozession von Herden und wippenden Rauchfängen entlang der Häuserfront. Mit ein paar Steinen unterlegen die Männer die wackelnden Füsse der Herde, dann stossen sie das Rohr durch die vorbereitete Dachluke. Zack zack, fertig ist die Grundausstattung der Küche.
Dolkar Thinley, das Gesicht einer verwelkten Blume, aber so strahlend wie eine gerade erblühte Blume, schlägt ihre Hände vors Gesicht. Sie kann kaum glauben, was nun vor ihr steht. Noch nie hat sie einen so schönen Herd gesehen. So gross. So modern. Welches Glück! Sofort schiebt Dolkar einige knorrige Aststücke in das Feuerloch, lässt etwas Weihrauch und Wacholder folgen – „für die Götter“ – und zündet an. Nochmals schlägt sie die Hände vors Gesicht: Es ist, als würde das Herz des Dorfes Namashung zu schlagen beginnen.
Von draussen ist derweil das Hämmern der Steinmetze zu hören, hell und scharf, gleichzeitig das Raspeln der Hobel, wenn die Schreiner das Holz für die Fensterrahmen bearbeiten, und irgendwo noch das Knirschen von Schaufeln, die in einen Kieshaufen gestossen werden. Es sind die einzigen Geräusch auf der Baustelle. Kein Grollen von Betonmischern, keine Presslufthämmer, nicht einmal das Sirren eines Bohrers – es gibt keine einzige Maschine.
Als im Sommer 2014 die Bauarbeiten begannen, erkannten Lama Ngawang und Manuel Bauer schnell, dass die Sam Dzong Ngas Unterstützung brauchten. Zwar waren sie gewiefte Handwerker und fähig, die neuen Häuser alleine zu bauen, doch konnten sie jeweils nur ein Mitglied pro Familie nach Namashung schicken, galt es doch gleichzeitig das Land in Sam Dzong zu bewirtschaften. Deshalb engagierten Lama Ngawang und Manuel Bauer zusätzliche Handwerker aus dem Tiefland.
Zusammen mit den künftigen Bewohnern begannen sie in der Folge die Steine für die Mauern aus dem nahen Flussbett zu holen. Sie trugen sie auf ihrem Rücken zur Baustelle und schlugen sie in die richtige Form, von Hand, jeden einzeln. Um die Steine zu Mauern verbinden, suchten sie lehmige Erde, mischten sie mit Flusssand und Wasser zu Mörtel. Alles Baumaterial aus der Natur. Dass die Mauern manchmal nicht ganz gerade sind und wie kleine Wellen schwingen, stört niemanden. Als die Rohbauten standen, verputzten sie die Wände, von Hand, sodass die Spuren ihrer Finger für immer zu sehen sein werden. Danach weisselten sie die Wände, mit Pigment, das sie aus einer Felswand gekratzt hatten, und als sie damit zu Ende waren, leuchteten nicht nur die Wände weiss, sondern auch die Menschen, von Kopf bis Fuss. Ihre Haut war weisser als die der Weissen, was sie belustigte.
Er hätte Namashung eigentlich gerne im Stil der anderen Dörfer hier oben gebaut, sagt Manuel Bauer. «Ineinander verschachtelte Häuser, schmale Gassen, über lange Jahre harmonisch gewachsen.» Wie eine Herde Yaks in einem Wintersturm sollte das Dorf aussehen, wenn sich die Tiere möglichst nahe aneinander drängen. «Aber leider erinnert Namashung eher an ein Motel in den USA.» Manuel Bauer ist nicht glücklich. Tatsächlich erinnern die Häuser an eine Schlafstätte am Rande eines Highways, gebaut in einer langen Reihe, 18 identische Würfel. «Es fehlen nur die Parkplätze.» Er habe in der Schweiz sogar einen Architekturwettbewerb ausschreiben wollen, «ich wollte ein Dorf, das gefällt. Doch es gab zwingende Gründe, Namashung genau so zu bauen». Die Gründe: Um die Häuser vor einer möglichen Überschwemmung zu schützen, planten Manuel Bauer und Lama Ngawang sie in maximaler Distanz zum Flussufer, an eine Hügelflanke gedrückt ganz am entfernten Ende des Plateaus. Ebenso für den Bau in einer langen Reihe sprach, da so möglichst wenig wertvolle und knappe Ackerfläche verloren geht. «Aber», kann sich der Fotograf rechtfertigen, «den Sam Dzong Ngas gefällt die Architektur.» In ihren Augen ist die Motel-Anordnung modern, und was modern ist, das ist gut.
Nachdem Manuel Bauer 2008 erstmals von den Problemen der Sam Dzong Ngas gehört hat, bleibt er schlaflos in seiner Herberge liegen. Zu sehr wühlt ihn ihre Not auf. Am nächsten Morgen entscheidet er sich, mehr in Erfahrung zu bringen, und so trifft er schon bald einmal jenen Mann, ohne den hier oben die Welt still stehen würde, ohne den es im Hauptort Mustangs kein kleines Wasserkraftwerk geben würde, ebenso wenig eine Schule, in der auch Mädchen zugelassen sind: Lama Ngawang. Die beiden verstehen sich, und bald sind sie sich klar, dass sie den Sam Dzong Ngas beistehen wollen.
Zurück in der Schweiz, trifft sich Manuel Bauer mit einer kleinen Gruppe engagierter Geologen und Klimaexperten und bespricht mit ihnen die Lage. Schliesslich reist er zusammen mit ihnen ein weiteres Mal nach Mustang. Gemeinsam analysieren sie die Lage, sie reiten zu den Quellen über Sam Dzong, prüfen ihre Ergiebigkeit und ob sie sich besser fassen lassen. Sie diskutieren, ob sich die Wassernot des Dorfes mit einem Reservoir beheben lässt: Eine 15 Kilometer lange Pipeline könnte den Ursprung des Flusses mit den Feldern in Sam Dzongs verbinden. Auch der Einsatz einer Grundwasserpumpe wird geprüft. Doch schliesslich zeigt sich, dass gegen den Klimawandel kein Mittel gewachsen ist. Die Pipeline könnte der Wucht der Unwetter nicht standhalten. Eine Probebohrung in die Tiefe bleibt ohne Erfolg.
Die Menschen in Sam Dzong müssen erkennen, dass sie in ihrem Dorf nicht länger bleiben können, wissen aber keinen Ausweg. In ihrer Not schicken sie eine Delegation zu König Jigme Palbar Bista. Obwohl von der Regierung Nepals entmachtet, ist der Monarch immer noch Grossgrundbesitzer und eine der wichtigsten Figuren im Rücken des Himalaya. Sie wollen ihn um Hilfe bitten, vielleicht verfügt er über Land, in einem anderen Tal, dessen Fluss nicht wie in Sam Dzong nur von Niederschlägen, sondern auch von Gletscherwasser genährt wird.
Also machen sich die Abgesandten auf, reiten über den 4›200 Meter hohen Pass nach Lo Manthang und gehen durch das Stadttor, unverändert seit dem 15. Jahrhundert, begehren Einlass am Palast mit seinem uneinnehmbar scheinenden Holztor, drücken sich vorbei an zähnefletschenden Hunden und stehen schliesslich im Empfangsraum. So etwas Schönes haben sie noch nie gesehen: Reich verzierte Möbel stehen auf kunstvoll geknüpften Teppichen, darunter edles Parkett. Als der Regent hereinkommt, ein alter Mann mit Wollmütze anstelle der Krone, legen sie ihre Handflächen zusammen und tragen ihr Anliegen vor: Sie müssen Sam Dzong verlassen, aus einem Grund, den sie nicht verstehen, der ihnen aber das Wasser gestohlen hat. Sie brauchen eine neue Heimat. Nur der König in seiner Güte kann sie retten.
Der König weiss bereits um ihre Not. Lama Ngawang, aus der gleichen Familie wie er stammend, hat ihn auf den Besuch vorbereitet. Und so hat er sich jene Lösung ausgedacht, die er ihnen nun darlegt: Namashung. Die Steinwüste. Seit dem Ausbruch eines Gletschersees im Jahre 1985 ist das Plateau Brachland. Die Wucht der Wasserwalze hatte damals Findlinge mit den Ausmassen von Kleinwagen über zwanzig Kilometer talabwärts geschwemmt und die Felder unter einer dicken Schicht Sand begraben. Zehn Hektaren blühende Natur erstickten.
Eine andere Möglichkeit als dieses Stück Wüste gebe es nicht, macht der König klar. Alles Ackerland ist vergeben, keines der Dörfer ist bereit, es mit den Klimaflüchtlingen zu teilen. Fruchtbar ist Mustang nur, wo Wasser fliesst, wo sich die Felder als dünnen Saum an die Ufer der wenigen Flüsse saugen. Als seien sie Parasiten.
Als der König seinen Vorschlag ausgeführt hat, müssen sich die Sam Dzong Ngas nicht überlegen. Sie willigen sofort ein, dankbar für den Ausweg aus ihrer Not. Sie wissen zwar nicht, wie sie dieses Land wieder urbar machen sollen, sie wissen nicht, wie hier ein neues Dorf bauen, und sie wissen auch nicht, wie sich vor einer möglichen nächsten Überschwemmung schützen, aber sie sind sich gewohnt, auch für unmögliche Probleme eine Lösung zu finden.
Ihre Lösung heisst Manuel Bauer. Als klar wird, dass Sam Dzong keine Zukunft hat und als neues Dorf an einem anderen Ort gebaut werden muss, überlegt er nicht lange. Um für das Projekt Geld zu sammeln, publiziert er die Geschichte der Sam Dzong Ngas in Magazinen und verbindet sie mit Spendenaufrufen, er hält Vorträge im ganzen Land und schämt sich nicht, auf der Bühne aus Verzweiflung über die Zerstörung dieses Planeten zu weinen. Gleichzeitig stellt er fest, dass es in seinem Leben ab sofort ein neues Problem gibt: Der Fotograf ist nun plötzlich Bauunternehmer, ein Gewerbe, von dem er keine Ahnung hat. Und seine Baustelle liegt erst noch 9’620 Kilometer von seinem Wohnort entfernt. Anstatt zu fotografieren, beschäftigt er sich nun mit Fragen zum Thema Landrecht, er recherchiert Öfen mit geringem Holzverbrauch und wenig CO2-Ausstoss, und er lernt, wie man hunderte von Spenden administrativ verarbeitet – ein Job, der ihn Tag und Nacht beschäftigt.
Anfangs 2014 ist es soweit, der Kontostand ist hoch genug. Längst sind die Häuser auf dem Papier entworfen. Jedes wird vier Zimmer haben: Altarraum, Vorratsraum, Sommer- und Winterküche. Schlafen werden die Menschen dort, wo gerade Platz ist. Tibetische Teppiche genügen ihnen als Unterlage, darüber einige Decken; am Morgen rollen sie alles zusammen. Die Häuser werden grösser sein als in Sam Dzong, aber weiterhin ohne Strom, ohne Wasser, ohne Bad – genau so, wie die Menschen sich zu leben gewohnt sind. Als Manuel Bauer mit Lama Ngawang diskutiert, weshalb nicht wenigstens Toiletten eingeplant werden, antwortet der Mönch: «Weil die Sam Dzong Ngas die grösste Toilette der Welt vor der Nase haben – die Natur.»
18. Mai, noch ein Tag bis zur Einweihung. Die Spannung steigt. Vor allem, da die Arbeiten an den Häusern stocken. Um ihren Familien beizustehen, sind die nepalischen Bauarbeiter nach den Erdbeben in ihre Dörfer auf der anderen Seite des Himalaya gereist. Nun fehlen sie.
Am meisten stressen die Verzögerungen Lama Ngawangs Assistenten Tsewang Gurung, einen jungen Mann mit indischer Top-Ausbildung. Stets ist er in Eile und findet nicht einmal Zeit, seine Brille von der dicken Staubschicht zu befreien. Als der Mönch am frühen Morgen in Namashung eintrifft, empfängt ihn der Assistent schlecht gelaunt. Die Sam Dzong Ngas sollten bereits an der Arbeit sein, sind es aber nicht. «Sie sind so unpünktlich», schimpft er. Manchmal kehren sie ohne Ankündigung in ihr altes Dorf zurück, doch dabei geht jeweils ein ganzer Arbeitstag verloren. «Nie sind sie dort, wo sie sein sollten.» Das ärgert ihn. Bei einem der Häuser fehlt immer noch das Dach, bei anderen sind die Umgebungsmauern nicht fertig, also bitte. «Und bis heute Abend ist das alles weg hier!», herrscht er nun einige Männer an, die zwar bereits Schaufeln in den Händen halten, aber untätig plaudern. Er zeigt mit ausgestrecktem Finger auf einen Erdhaufen. Dann klopft ihm Lama Ngawang auf die Schulter und beruhigt ihn. Er hat eine gute Nachricht.
Seit gestern Abend ist endlich klar, wie die Felder in Namashung bewässert werden. «Ein Wunder ist passiert!» Streitigkeiten mit dem Nachbardorf hatten bislang eine Lösung verhindert. Lama Ngawangs Bruder, Besitzer des einzigen Bulldozers hier oben, hatte im vergangenen Jahr etwas vorschnell einen Wasserkanal ausgehoben, mitten durch das Land der Nachbargemeinde. Das gab böses Blut. Doch Lama Ngawang, der clevere Drahtzieher, wartete geduldig, bis sich der gröbste Ärger gelegt hatte, und er wartete noch geduldiger auf eine Gelegenheit, um das ursprüngliche Ziel trotzdem zu erreichen. Und tatsächlich: Mit den Erdbeben kam die Lösung. Die Stösse hatten im Nachbardorf zwar nur zu einigen Mauerrissen und angeknacksten Balken geführt, aber dennoch trauten sich die Menschen nicht mehr in die Häuser. Entsprechend dringend sind die Reparaturen; doch dafür fehlen die Mittel. Was Lama Ngawang und Manuel Bauer auf die Idee brachte, in der Schweiz zusätzliches Geld zur Behebung der Erdbebenschäden zu sammeln. Damit könnten diese – und andere – Schäden repariert werden. Diese Idee schlug der Mönch dem Vorsteher des Nachbardorfs vor, als Gegenleistung würden die Sam Dzong Ngas die Erlaubnis erhalten, den begonnenen Wasserkanal fertigzustellen. «Das hat funktioniert». Lama Ngawang schmunzelt.
In einem der Häuser ist eine Gruppe von Frauen inzwischen daran, den Boden für den Einzug vorzubereiten. Zu ihnen gehört Nyima Thinley. Sie ist 18, trägt Jeans mit den Initialen «CK», geschrieben in glitzerndem Strass, und in ihrer Hosentasche steckt ein Skyphone mit so abgewetzten Tasten, dass die Nummern nur noch teilweise lesbar sind. Nyima ist froh, dass die Zeit in Sam Dzong vorbei ist. Zu abgelegen, zu einsam. Von Namashung aus ist der Hauptort Mustangs viel schneller zu erreichen, in einer guten Stunde Fussmarsch. Die Nähe zur lokalen Metropole – immerhin 569 Einwohner und ein Lokal mit Coca-Cola und «Illy»-Kaffee – ist ein grosser Vorteil. Hier kann sie andere Teenager treffen, auch andere Boys. Nyima lacht und macht sich an die Arbeit. Um den Lehmboden zuerst einmal grob auszuebnen, greift sie sich einen Pickel und rammt ihn so heftig in den Boden, als wollte sie den Planeten spalten. Derweil beginnen die anderen Frauen den Boden zu wässern, legen leere Reissäcke unter die Füsse und stampfen anschliessend den Untergrund, mit schnellen Schritten im Takt, ein Stepptanz am Ende der Welt. Dazu singen sie: «Auf dem Pass aus Gold und Kupfer/weht eine goldene Fahne/ihr Leuchten ist von weiter Ferne zu sehen /das macht die Menschen sehr glücklich.» Sie singen mit Inbrunst und Hingabe. Was Nyima aber nicht daran hindert, gleichzeitig Kaugummiblasen knallen zu lassen. Grosse Blasen, die sich über ihre Nase legen. Als die pinkfarbene Masse beim Singen dann doch zu fest stört, klebt sie sie zwecks Zwischenlagerung an ihren Ohrschmuck.
Die Sonne zieht sich bereits in Richtung des Dhaulagiri II zurück, als Lama Ngawang ankündigt, er gedenke die Einweihung Namashungs mit einem Pferderennen zu verbinden, nicht am selben Tag zwar, sondern etwas später, wenn entlang der Häuser die Gebetsfahnen gespannt werden. Ein Pferderennen! Das grösste Vergnügen hier oben! Am meisten Vorfreude zeigt Lama Ngawang selbst, Besitzer eines braunes Wallachs, eines der besten Pferde weit und breit. Und so schwingt er sich in den Sattel und macht sich schon mal ans Training. Das heisst, zuerst bringt er sich und das Pferd etwas in Stimmung. Und tut, was die Männer im Unterland mit ihren Ferraris vor dem Kavalierstart tun: mit dem Gaspedal spielen. Er zwickt den Wallach in die Seite, lässt ihn tänzeln, von links nach rechts, noch ein Zwick, das Pferd bäumt sich auf, dann geht es rückwärts, wirft den schönen Kopf ungestüm hin und her. Lama Ngawang lacht. Schliesslich beschleunigt er das Tier mit einem kurzen «Tschuu!» von Null auf Maximum und fliegt – die mönchsfarbene Jacke flatternd wie das Cape Supermans – in einer Staubwolke der Häuserzeile von Namashung entlang.
19. Mai. Die Einweihung. Der Wind hat bereits zu seinem Spektakel angesetzt, wie jeden Tag gegen elf Uhr, als die Karawane vor der langen Häuserreihe hält, die festlich gekleideten Menschen von ihren Pferden steigen und sich vor dem ersten Gebäude versammeln, im Halbkreis, ehrfürchtig wie in der Kirche, in den Händen Glücksschleifen. Niemand beschwert sich wegen der zwei Stunden Verspätung, es ist der falsche Moment. Um acht Uhr waren sie erwartet worden, so hatte es Lama Ngawangs Assistent mit ihnen abgesprochen, aber wahrscheinlich hatten sie sich unterwegs zu lange am Sitz der Dorfgottheit Phoyawha aufgehalten; sie gilt als leicht reizbar, und Lama Ngawang hatte den Sam Dzong Ngas geraten, zur Beruhigung der Göttin einige zusätzliche Gebetsfahnen aufzuhängen.
Doch nun kann die Zeremonie beginnen. Das heisst: Lama Ngawang übergibt die Häuser den einzelnen Familien. Dass die Zuteilung erst jetzt erfolgt, und zwar per Losentscheid, haben die Sam Dzong Ngas selbst so gewünscht. Sie wollten warten, bis alle Häuser fertig gebaut sind. So liess sich verhindern, dass jemand nur am eigenen Haus baut. Und mit dem Ziehen von Losen können sie sicherstellen, dass sich keine der 18 Familien übervorteilt fühlt, denn nicht alle 18 Häuser sind genau gleich gross. Es seien nur ein paar Zentimeter Unterschied, weiss Assistent Tsewang, er hat gemessen. Aber ihr von den täglichen Nöten auf 3‘800 Metern maximal entwickelter Gerechtigkeitssinn bewog die Sam Dzong Ngas, jeglichen Anlass für Neid auszumerzen.
Assistent Tsewang Gurung hat die Besitzurkunden vorbereitet, in einer Nachtschicht. Er hat aus einem 700 Jahre alten Buch 18 Gedichte ausgewählt, sie zur Feier des heutigen Tages etwas umgeschrieben und unter jedes Gedicht den Namen einer Familie gesetzt. Dann hat er die Urkunden zusammengebunden, mit Bändern, deren Farben den fünf Elementen der tibetischen Lehre entsprechen. Nun trägt er die Rollen vor sich auf einem silbernen Tablett, alle Sam Dzong Ngas starren darauf: Hier verbirgt sich ihre Zukunft. Jetzt wird sich klären, wer wen als Nachbarn erhält, wer eher in der Mitte oder an einem der Enden der langen Häuserreihe wohnen wird. Ein Moment, der für die kommenden Jahrzehnte, vielleicht Jahrhunderte, Gültigkeit haben wird.
Aber noch immer ist es nicht soweit. Der Mönch lässt es sich nicht nehmen, eine kleine Rede zu halten. Allerdings muss er sich zuerst hinter den Gläsern der Sonnenbrille die Augen reiben, vielleicht stört ihn der Staub in der Luft, vielleicht ist es aber auch eine Träne. Dann setzt er an: «Als sich der Umzug von Sam Dzong nach Namashung als einzige Lösung abzeichnete, sah ich nur Probleme. Aber wir sind diese Probleme angegangen, sie haben uns bereichert und unser Wissen vergrössert. Jetzt steht hier ein neues Dorf, und das macht mich sehr glücklich. Ich danke Manuel Bauer für seinen Mut, sich an dieses Projekt zu wagen, und ich danke allen Sponsoren in der Schweiz, die den Bau des neuen Dorfes erst ermöglicht haben.»
Jetzt geht es endlich los. Lama Ngawang bestimmt zwei Kinder als Glücksfeen; sie ziehen das erste Los aus dem Stapel. Der Mönch entrollt die Urkunde und liest das Gedicht: «Blitze erhellen die Wolken am Himmel/auf der Erde tanzen freudig Pfauen/möge nun sanfter Regen fallen/und alle lebenden Wesen erfreuen.» Dann der entscheidende Moment: Welcher Name steht darunter?
«Tsewang und Dolkar Rigzin!» Wie ein Herold im Mittelalter ruft Lama Ngawang die neuen Besitzer aus. Tsewang Rigzin zuckt unter seinem mächtigen Fellhut zusammen, dann tritt er gesenkten Hauptes vor und nimmt die Urkunde entgegen. Er zögert, wie soll er sich nun verhalten, feierlich oder erfreut? Er entscheidet sich zu lachen. Und ruft: «Lha gyal lo!» – «Sieg den Göttern!». Dann betritt er, was ab sofort sein Haus ist, Dolkar folgt in gebührendem Abstand. Tsewang bindet eine Glücksschleife um den Stützbalken in der Küche, hält einen Moment inne und faltet die Hände, seine Frau tut es ihm gleich. Jetzt lacht er erneut.
Nach zwei Stunden sind alle Häuser verteilt. Aus achtzehn gesichtslosen Würfeln ist das Zuhause von achtzehn Familien geworden, die neue Heimat der Sam Dzong Ngas. Namashung ist Realität, ein grosser Moment. Alles ist gut gegangen. Ausser dass zwei der frisch erkorenen Hausbesitzer beim ersten Gang über die eigene Schwelle stolperten. Doch niemand erkannte darin ein schlechtes Omen. Erstaunlich, denn hier oben, wo sich die vielen Dämonen stets mit den guten Wesen in den Haaren liegen, gilt es auf solche Zeichen zu achten. Die Strauchelnden ernteten einzig Gelächter, sie selbst lachten ebenfalls.
Als alles vorbei ist, tritt Dolkar Thinley vor und geht zu Manuel Bauer, beobachtet von allen. Sie berührt mit ihrer Stirne seine Stirne, faltet ihre Hände und beginnt zu weinen, laut und heftig. Und als sie nicht aufhört, setzen auch andere in dieses Lamento ein, es ist ein grosses Schniefen und Schneuzen unter einem tiefblauen Himmel, der ihnen zum Feind geworden ist, ohne dass sie es verstehen, ohne dass sie dafür verantwortlich sind.
Am Tag nach der Einweihung gehen die Arbeiten weiter. Nichts hat sich verändert, und doch ist alles anders: Die Sam Dzong Ngas sind nun Namashung Ngas. An einen verbliebenen Findling gelehnt, schauen Lama Ngawang und Manuel Bauer auf die Häuserreihe. Beide sind entspannt; das Werk ist vollbracht. Sie besprechen, was noch zu tun ist, einiges, doch endlich sind die Pendenzen überschaubar. Dringend sind einzig die Brunnen, drei sind geplant. Sie fehlen nicht nur als Wasserquellen, sondern auch als Treffpunkt, denn wie überall in Mustang spielt sich hier das Leben ab. Im ersten Morgenlicht kommen die Menschen, um Wasser zu holen und Zähne zu putzen. Hier waschen sie Kleider und Geschirr, gleichzeitig erzählen sie sich das Neuste. Und ja, ganz wichtig: «Die Gebetsfahnen.» In zwei Tagen bereits sollen die Masten stehen, zehn Meter hoch. Lama Ngawang hat es angekündigt. Von ihren Spitzen aus werden die Namashung Ngas Leinen mit tausenden von Fähnchen spannen, in den Farben der Elemente. Lungta, das Windpferd, wird ihre Botschaften in den Himmel tragen. Was fehlt noch? «Mehr Bäume?», schlägt Manuel Bauer vor. Bereits sind 150 Pappeln gesetzt, in einer langen Reihe entlang der Häuser. Sollen sie noch mehr pflanzen? «Ja, viele, aber erst später.»
Dann kehren sich der Mönch und der Fotograf um und schauen hinaus auf das Plateau, wo der Boden bald einmal gepflügt werden soll, zuerst mit dem Traktor, weil sich weiterhin grössere Steine im Untergrund verstecken, dann mit den Ochsen, wie schon immer. Die Frauen werden Ziegenmist als Dünger ausbringen, und im Frühjahr 2016 soll zum ersten Mal angesät werden.
Bis die Felder tragen, wird Namashung auch vor einem möglichen nächsten Ausbruch des Gletschersees geschützt sein. Manuel Bauer hat einen Schweizer Ingenieur mit dieser Aufgabe betraut. Der Experte für Flussverbauungen hat die Situation an Ort und Stelle analysiert, gerechnet und plant nun einen über hundert Meter langen Schutzdamm, so massiv und sicher, dass er auch einem Jahrhundertereignis standzuhalten vermag.
Es ist viel Aufwand, der Damm ist teuer und wird das Budget so belasten, dass Manuel Bauer noch mehr Geld sammeln muss. Dass unklar ist, wie lange die Namashung Ngas am neuen Ort überhaupt bleiben können, muss er hinnehmen. Denn auch dieses Tal wird eines Tages zu wenig Wasser haben – sofern die Menschen im Tiefland nicht alsbald verstehen, welche Folgen der Klimawandel hat. Die Gletscher im Kranz der Sechstausender werden schwinden wie alle anderen, und ihr Eis wird irgendwann ganz geschmolzen sein, im Verlaufe der nächsten fünfzig, hundert oder noch mehr Jahre, niemand weiss das so genau. Aber dann wird nicht nur Namashung unbewohnbar sein, sondern ganz Mustang: Alle Dörfer in dieser Einöde werden kein Wasser mehr haben. Es wird kein Leben mehr möglich sein im Rücken des Himalaya – dreitausend Jahre nach der ersten Besiedelung, wie Schädelfunde belegen.
Doch soweit denken die Namashung Ngas nicht. Sie arbeiten an diesem Tag etwas weniger geschäftig als sonst, auch sie sind entspannt. Die Frauen machen sich über einen Karton Fruchtsäfte her, ein Luxus aus der Metropole Lo Manthang, auch wenn das Verfalldatum ein halbes Jahr zurückliegt. Nyima sitzt allein mit dem Skyphone auf der Treppe ihres Hauses und starrt es an; soeben ist ihr der Kredit ausgegangen. Und die Männer lehnen an einer Hausmauer und trinken selbstgebrautes Bier, aufbewahrt in alterstrüben Colaflaschen. Wie ging für sie die Verlosung aus? Hätten sie sich ein anderes Haus gewünscht? «Nein.» – «Genau dieses.» – «Ich habe den Wunschnachbarn». Sind sie also zufrieden? «Ja.» – «Sehr.» Wieder einmal haben die Götter alles richtig entschieden.
Ein Adler zieht derweil seine Kreise am Himmel.
«Mein Leben ist durch die Krise der Printmedien interessanter geworden.»
Eines Nachts baten ihn drei verzweifelte Bauern in Mustang um Hilfe. Daraus entstand ein mehrjähriges Projekt, das zur Umsiedlung eines ganzen Dorfs geführt hat: Manuel Bauer über neue Strategien im Fotojournalismus, seine Rolle als Fotograf und warum er trotz schwindender Absatzmärkte positiv in die Zukunft blickt.
Sascha Renner im Gespräch mit Manuel Bauer.
Lieber Manuel, das abgelegene Dorf Sam Dzong beschäftigt Dich, seit Du 2008 erstmals nach Mustang gereist bist. War das geplant?
Nein, im Gegenteil. Nach dem Abschluss meines mehrjährigen Dalai-Lama-Projekts war ich erschöpft und gestand mir für einmal zu, einfach nur zum Vergnügen zu fotografieren. Ich wurde von einem Freund nach Mustang eingeladen, Robert Jenny, der als einer der ersten in das ehemals unabhängige buddhistische Königreich am Himalaya gereist war. Wir wollten eine Ausstellung machen, Roberts Bilder aus den 1960er-Jahren und neue von mir zeigen: das alte Mustang also und wie es sich verändert hat. Mustang hatte mich bis dahin nie interessiert, weil es dort keine Probleme zu fotografieren gab. Aber dumm gelaufen: Ich bin in Mustang unvermutet auf ein Problem gestossen, das mich schon länger bewegte, das ich dort aber nicht erwartet habe: den Klimawandel.
Du bist dafür zum Projektmanager und Entwicklungshelfer geworden. Warum hast Du diese Last auf Dich genommen? Du bist Fotograf.
Ich habe sie nur in Tranchen auf mich genommen. Der Anfang war ja sehr überschaubar. Es schien wie im Märchen: Der König schenkt den Menschen in Sam Dzong Land für ein neues Dorf, ich helfe, die Felder von den Findlingen zu befreien, und die Dorfbewohner siedeln selber über. Ich hatte ein Budget von 20’000 Franken für die Räumungsarbeiten zu finanzieren. Dieses Geld habe ich mit Vorträgen in der Schweiz sammeln können. Das hat sich jedoch als zu naiv herausgestellt. Es traten Probleme auf, welche die Dorfbevölkerung selber nicht bewältigen konnte, und ich wollte sie nicht im Stich lassen. Dank der Grosszügigkeit der Schweizer Spender fasste ich Mut, auch die zusätzlichen Mittel für das Bauholz und dann die nächsten notwendigen Schritte zu beschaffen. Hätte ich aber von Anfang an gewusst, dass ich helfe, ein ganzes Dorf zu bauen, hätte ich es nicht gewagt.
Seit es die Fotografie gibt und insbesondere die Tradition der engagierten Fotografie, streitet man darüber, ob Bilder etwas bewirken können. Die Frage an Dich: Was können sie bewirken?
Ich glaube schon, dass man mit Bildern auf Missstände aufmerksam machen kann, auch wenn ich immer wieder einmal daran zweifle. Als ich 1995 als bisher einziger Fotograf die Flucht von Tibetern dokumentieren konnte, wurde diese Reportage in vielen Ländern und Sprachen publiziert. Es wäre falsch zu sagen, dass dies nichts bringt, auch wenn man selten direkte Rückmeldungen erhält. Es braucht diese Berichterstattung. Zumindest sensibilisiert sie die Leserschaft für ein Thema. Mich zu engagieren, ist für mich ganz natürlich. Das Engagement stand bei mir immer an erster Stelle, deswegen wurde ich Fotograf. Schon in den 1980er-Jahren, bevor ich Fotograf war, kämpfte ich für den Umweltschutz.
Die Reportage ist in den klassischen Printmedien zu grossen Teilen weggebrochen. In welchem Rahmen kann die Fotografie heute etwas bewirken?
Es gibt andere, direktere Formen der Kommunikation, die ich seit einigen Jahren intensiver nutze, wie den Vortrag oder die neuen Medien. Ich kann zum Beispiel über Youtube zu einem Publikum sprechen. Auch das ist Einwegkommunikation, aber sie ist intimer und emotionaler als die Kommunikation mittels Papier. Ich frage mich, ob wir heute nicht sogar mehr Möglichkeiten haben, bei den Leuten Betroffenheit Empathie zu wecken. Eine Gefahr sehe ich allerdings in der Schnelllebigkeit. Grosse Demonstrationen wie in den 1980er-Jahren, etwa gegen die Kernkraft, sind heute fast undenkbar. Die Leute liken stattdessen etwas auf irgendeiner Plattform, und ihr Engagement hat sich so erledigt. Aber reicht das? Wo sind die Leute, die physisch auf die Strasse gehen? Es ist gefährlich, sein Gewissen mit einem Klick zu beruhigen.
Im Fall von Sam Dzong hat jedoch ein Printmedium eine entscheidende Rolle gespielt: Das Magazin hat Ende 2013 Deine Bilder mit einem Text von Christian Schmidt publiziert.
Wir waren platt! Die Bereitschaft des Magazins, die Reportage kurz vor Weihnachten zusammen mit einem Spendenaufruf zu platzieren, vor allem aberund diese sehr berührende Geschichte – Bauern, die umziehen müssen aus Gründen, für die sie nichts können – das war natürlich ein Glücksfall. Dennoch hätten wir nie eine solche Resonanz erwartet. Wir rechneten mit 5000 Franken, maximal 20’000 Franken. Am Ende kam ein die halbe Million zusammen, die für das neue Dorf nötig war . Rührende Briefe wurden uns geschrieben, es gab Kinder, die ihre Weihnachtsgeschenke spendeten, Familien, die den Artikel als Weihnachtsgeschichte unter dem Christbaum vorlasen, Firmen, die auf Kundengeschenke verzichteten. Das war für mich auch ein Medienerfolg: zu beweisen, dass die Leute lesen. Ein wunderbares Feedback für uns Journalisten und die Printmedien. Das Engagement der Leser erlaubte es mir meine Energie schon früh vom Spendensammeln zur eigentlichen Aufbauarbeit zu verlagern. Wobei wir immer nach dem Grundsatz Hilfe zur Selbsthilfe vorgingen: die Sam Dzong Ngas haben sämmtliche Arbeiten ausgeführt, welche sie aus eigener Kraft leisten konnten.
Dadurch bist Du vom Journalisten zum Helfer mutiert: ein Verstoss gegen das Credo des Fotoreporters, unbeteiligt zu bleiben im Interesse der journalistischen Unabhängigkeit? Hast Du einen Rollenkonflikt durchlebt?
Ja. Aber da müssen wir ehrlich sein: Als Fotograf in der Tradition des Concerned Photojournalism gibt es diesen Konflikt von Anfang an. Mein Standpunkt ist über mein Menschsein definiert. Ich brauche das nicht zu verstecken, im Gegenteil. Während der Arbeit an Flucht aus Tibet wollte ich neutral sein; damals habe ich noch ganz an dieses Credo geglaubt. Aber das war prätentiös. Ich musste mir eingestehen, dass ich mit den Flüchtlingen auf Leben und Tod eine Schicksalsgemeinschaft bildete. Ich habe von ihrem Essen genommen, und sie haben in meinem Biwaksack geschlafen. Ihre Stärke hat mich wohl die Strapazen überhaupt überleben lassen. Das ist keine Neutralität. Diese geht nur vom Schreibtisch aus. Aber in einer Extremsituation ist es aus humanitären Gründen nicht möglich, unbeteiligt zu bleiben. Daneben braucht es in den Medien aber, davon bin ich überzeugt, auch den neutralen Berichterstatter, den Korrespondenten.
Erstaunlicherweise hatten aber auch die Redaktionen nichts dagegen einzuwenden, dass ich das Dorf Sam Dzong dokumentiere, das ich selber unterstützte. Noch vor einigen Jahren hätte eine grosse Redaktion gesagt, darüber berichtet ein anderer, nicht Du, wir gefährden hier die journalistische Unabhängigkeit. Heute leben wir diesbezüglich in einer ziemlich aufgeweichten Welt. Die Deregulierung in der Wirtschaft und das Faustrecht des Gelds hinterlassen überall Spuren. Alle sind unter Druck, ethische Fragen werden weniger gestellt. Ich kann nun deswegen die Hände verwerfen oder die Umstände zum Guten nutzen. Wenn ich nach reiflicher Überlegung weiss, ich tue nichts Böses, die Motivation stimmt, dann ist es richtig. Hätte ich Sam Dzong nicht helfen sollen, um neutraler Journalist zu bleiben? Nein.
Ist man versucht, eine besonders sentimentale Bildsprache und Motivik zu wählen, um ein Publikum emotional zu berühren und zum Handeln zu motivieren? Man kennt dies aus der Hilfswerkfotografie.
Solche Fragen reflektiere ich immer wieder. Wird man über die Zeit angepasster oder bequemer? Geht man über Leichen für ein gutes Bild, bleibt man seinen Prinzipien treu? Aber letztendlich bin ich immer Mensch und Fotograf. Mein Überleben hängt von der fotografischen Qualität und Authentizität meiner Bilder ab. Ich realisiere jedoch, dass ich durch die Digitalfotografie das bewusste Sehen verlernen kann. Für eine grössere Reportage hatte ich früher 200 Filme im Gepäck, das war schon viel. Aber Speicherkarten bietet viel mehr Platz. Es braucht heute mehr Disziplin, ein Bild bewusst auszulösen. Ich mag komplexe Bilder mit vielen Details: Die Bewegungen müssen stimmen, die Überschneidungen, die Hintergründe, die Vordergründe. Ich nenne das die Choreografie des Zufalls. Auf diese Details achtet man weniger, wenn man beliebig oft auslösen kann. Dabei ist das Zauberhafte an der Fotografie: die Stimmigkeit des Augenblicks dank des Einfrierens der Zeit zu geniessen. Fotografieren ist nicht filmen, sondern hat für mich mit dem Erfassen des entscheidenden Augenblicks zu tun.
Im Fall von Sam Dzong erlaubte es Dir der Greenpeace Photo Award ganz zum Schluss, einen Teil Deines Aufwands zu decken. Wie finanziert man heute aufwändige Reportagen mit Tiefe? Welche Strategien muss ein Fotojournalist verfolgen?
Es ist immer noch dasselbe. Man braucht den Willen, etwas zu erzählen. Man muss wissen, was man zu sagen hat, und man muss die Kraft haben, es durchzuziehen. Auch früher mussten wir das Geld suchen, es brauchte Zweit- und Drittverkäufe im Ausland, das war anstrengend. Da es heute nicht mehr nur über die Medien geht, suche ich andere Finanzierungswege. Im Fall von Sam Dzong war das ein breiter Mix: Crowdfunding, Eigenfinanzierung, Stiftungszuwendungen und Honorare von Redaktionen. Ich führte sogar Trekkinggruppen nach Mustang und habe mir so wieder eine Reise finanziert. Auch die Vertriebskanäle sind sehr vielfältig geworden: Printmedien wie Das Magazin und Geo, Online-Artikel, direkte Mailings an Spender, Vorträge, die Ausstellung dank der Coalmine und dem Greenpeace Photo Award, diese Begleitpublikation. Mein Leben ist durch die Krise der Printmedien interessanter geworden.