Prestige
Am 19. November 2002 sinkt vor der spanischen Küste nahe Cap Finisterre der marode Öltanker „Prestige“, ein 25jähriges Einhüllentanker mit 70’000 Tonnen Rohöl an Bord. Die Konsequenzen sind katastrophal, rund 1500 Kilometer Küste von Spanien bis Frankriech werden verschmutzt. Die Fischer verlieren ihre Lebensgrundlage. Mit blosen Händen versuchen sie das Meer vom «Chapapote», galizisch für «Scheisse», zu befreien. Unterstütz werden sie von über 200’000 Freiwilligen.
Das Ende der “Prestige”
Ein Hintergrundbericht von Christian Schmidt / Kontrast
Der Untergang ist abzusehen. Den ganzen Sommer 2002 liegt der 1976 gebaute Tanker “Prestige” in den Ostseehäfen von St. Petersburg und Ventspils und dient als schwimmender Bunker für Schweröl – der einzige Zweck, zu dem das überalterte Schiff noch zu gebrauchen ist – , dann legt es anfangs November ab und sticht mit 77’000 Tonnen beladen Richtung Atlantik in See, zu seiner letzten Fahrt. Als der dänische Lotse Jens Jørgen Thuesen das Schiff durch die schwierig zu befahrende Kadetrinne steuert, stellt er fest, “dass das Schiff eigentlich nicht hätte Auslaufen dürfen”. Das Antikollisionssystemfunktioniert nicht, und über dem Radarschirm auf der Brücke hängt eine Jacke, weil sich der Steuermann vom Licht geblendet fühlt. Eine Kommunikation mit dem Kapitän sei kaum möglich, entweder “weil er senil ist oder kein englisch kann”. Insgesamt müsse er den Zustand des Schiffes als “unter aller Kritik” beschreiben, sagt Thuesen einer dänischen Zeitung.
Doch der Lotse, der als einziger die Katastrophe noch aufhalten könnte, schweigt. Er fürchtet, seine Kundschaft zu verärgern. Die Kundschaft – das sind die Charterfirma der „Prestige“, die Crown Resources AG mit Sitz im schweizerischen Zug, und die Mare Shipping Inc. mit Adresse in Liberia als Eignerin. Sie sind tatsächlich sehr interessiert, dass das Schiff weiter Kurs Richtung Singapur nimmt, auch wenn die Fracht nur den bescheidenen Wert von 9 Millionen Dollar hat. Beim Schweröl handelt sich um Überreste aus den russischen Raffinerien, die man in der Ferne besser los werden kann als in Europa. Mit der Ladung versüssen sich Eigner und Charterer jedoch nur die Fahrt des Schiffes, denn es soll auf einem der billigen Schrottplätze in Asien abgewrackt werden: Die „Prestige“, das weiss auch die Mare Shipping Inc., hat ausgedient. Als sich dann kurz nach dem Auslaufen des Tankers zeigt, dass die Ölpreise nach Bushs Kriegsdrohungen gegen Irak am Rotterdamer Spotmarkt rasant steigen, nimmt man das bei der Crown Resources gerne als zusätzliches Geschenk entgegen. Im Verlaufe der auf drei Wochen angesetzten Fahrt der „Prestige“ wird die Ladung rund 1,4 Millionen Dollar an Wert zunehmen. Doch auch für die Mare Shipping lohnt sich die Reise; denn mit seinen 25 Jahren ist der Tanker restlos abgeschrieben und bringt nur noch Gewinn, pro Tag 13’000 Dollar. Zudem hat man für die Fahrt als Mannschaft eine Handvoll Filippinos angeheuert, von denen kaum einer weiss, wie man ein Tau anlegt. Auch sie kosten nicht viel.Der übliche Monatslohn für Seeleute dieser Qualität beträgt 400 Dollar. Alles in allem scheint sich für Eigner und Charterer das Geschäft zu lohnen. Sie wissen noch nicht, welche Katastrophe sie aufgrund von ein paar lächerlichen Millionen Dollar provozieren.
Was dann am 13. November 2002 knapp dreissig Seemeilen vor Kap Finisterre die Filippinos so erschreckt, dass sie laut Aussagen des Kapitäns der “Prestige” zu weinen beginnen, ist bis heute nicht geklärt. Jedenfalls geht plötzlich ein starkes Zittern durch den Rumpf, und der Tanker entwickelt in kurzer Zeit Schlagseite. Das Rechercheteam von Lloyd’s, als weltbeste Informationsquelle für alle maritime Fragen geltend, erklärt wenige Tage nach der Havarie, ein vorausfahrender Frachter habe in der schweren See 200 Holzstämme verloren. Eine Kollision mit ihnen könne den Rumpf aufgeschlitzt haben.
Eine Bestätigung dieser These fehlt allerdings bis heute. Möglicherweise hält auch das alte Schiff mitseiner Einhüllenkonstruktion den Wogen des Novembersturmes nicht mehr stand. Dafür spricht, dass eine Werft im chinesischen Guangzhou im Jahr zuvor grossflächig Stahl im Bereich der Mittschifftanks ersetzen musste, um den Tanker wieder seetüchtig zu machen. Genau in diesem Bereich wird das Schiff dann auseinanderbrechen. Aber auch das sind nur Vermutungen.
Die Ereignisse der folgenden sechs Tage lassen sich rückblickend nur als Desaster bezeichnen, dessen Ausgang zwangsläufig herbeigeführt worden ist. Jose Manuel Rosas Otero, Vorsteher der Fischergemeinschaft im galizischen Küstendorf San Martino de Bueu, fasst die Situation wie folgt zusammen: “Wenn die spanische Polizei eine Bombe der ETA findet, fährt sie damit nicht spazieren. Sie wird sofort entschärft. Die ‚Prestige‘ liess man jedoch noch sechs Tage herumirren.” Otero, am Pier über den ölverschmierten Fischerbooten seiner Kollegen stehend, verschränkt die Arme und fügt an: “Man wartete einfach, bis sie hochging.” Oder, im Fall des Schiffes, bis es unterging. Tatsächlich fuhr die “Prestige” noch während einer Woche mehr oder weniger ziellos vor der Küste herum. Satellitenbilder aus diesen Tagen zeigen, wie vom havarierten Schiff eine beständig grösser werdender Ölteppich ausgeht. Er bewegt sich wie ein im Wind wehendes Band auf die Küste zu.
Die Verantwortung für die Irrfahrt geht in erster Linie auf das Konto der spanischen Regierung, die in diesen Tagen einzig durch absolutes Desinteresse an der sich abzeichnenden Katastrophe auffällt. Sowohl der galizische Präsident Manuel Fraga als auch Verkehrsminister Francisco Álvarez-Cascos vergnügen sich auf der Jagd, als die “Prestige” aus dem 16 Meter langen Riss in ihrer Bordwand Öl zu verlieren beginnt. Umweltminister Jaume Matas erholt sich in einem Nationalpark, und bis Ministerpräsident José María Aznar sich erstmals an die Küste begeben wird, wird es geschlagene 26 Tage dauern. Der Entscheid, den man in Madrid in dieser Situation fällt, ist entsprechend ebenso kurzsichtig wie leichtfertig: Man verweigert der leckenden “Prestige” einen Hafen anzulaufen, in dem das Öl abgepumpt werden könnte. Sollte sich der Tanker der Küste dennoch weiter nähern, haben spanische Kriegsschiffe den Befehl, ihn zum Abdrehen zu zwingen. Die Bevölkerung wird beschwichtigt. “Man kann nicht von einer Ölpest reden. Es handelt sich um schwarze Flecken,” erklärt etwa J.L. Lopez Sors als Generaldirektor der spanischen Handelsmarine. Und als der Tanker bereits mit 25 Grad Schlagseite zum Spielball der bis zehn Meter hohen Wellen geworden ist, behauptet Manuel Fraga weiterhin kühn, “die grösste Gefahr ist bereits überstanden.” Doch der Politiker, unter Franco bereits als Informationsminister tätig, sollte sich täuschen. Am 19. November bricht die “Prestige” morgens um 7 Uhr in der Mitte auseinander und sinkt 240 Kilometer vor der spanischen Küste. Sie liegt heute in einer Tiefe von 3500 Metern.
Zwei Monate nach dem Untergang hat sich trotz aller Proteste wenig geändert. Die EU gibt sich zwar forsch und will verhindern, dass Einhüllen-Öltanker weiterhin schweres Heizöl entlang der EU-Küsten transportieren dürfen. In Brüssel setzt man deshalb 66 Schiffe auf eine schwarze Liste. Doch Greenpeace entdeckt, dass nur 8 dieser Schiffe Öltanker sind. 6 sind so klein, dass sie kaum von Belang sind. Es verbleiben 2. Eines der beiden ist Ende September zum Abwracken nach Sri Lanka ausgelaufen. Weltweit sind aber weiterhin 3620 Einhüllen-Tanker unterwegs. Ebenfalls im Sand verlaufen die Bemühungen, eine EU-Kommission mit der Untersuchung der Hintergründe des Untergangs zu beauftragen. Der Antrag scheitert in der Abstimmung mit 226 zu 222 Stimmen. Die spanische Regierung zelebriert weiterhin Hilflosigkeit. Anfangs Dezember sind es immer noch die Freiwilligen, welche die ganze Arbeit erledigen. Die Armee hält sich im Hintergrund. Am Strand von San Vincente do Mar, einem der am meisten betroffenen Abschnitte und gleichzeitig militärisches Sperrgebiet, besteht in diesen Tagen die einzige Leistung der Soldaten darin, die Stacheldrahtverhaue zu öffnen und die Voluntarios in dieses unberührte Naturgebiet einzulassen. Dann treten sie in den Hintergrund und schauen zu. Doch damit ist der Gipfel der Überheblichkeit noch nicht erreicht. Wenige Tage vor Weihnachten wagt es der galizische Fischereiminister Enrique Lopez Veiga, den völlig erschöpften Männern einer kleinen Küstengemeinde eine Busse zuzustellen. Die Nachricht erreicht die Männer, während dem sie alleine und ohne jede staatliche Unterstützung die unter Naturschutz stehende Insel Sisargas reinigen. Der Minister behauptet, im vorangegangenen Jahr hätten die Männer mehr als die erlaubte Menge gefischt, macht 2000 Euro Strafe pro Person. Die Fischer, erschüttert ob dem jeder Einfühlsamkeit entbehrenden Timing, treten in einen Hungerstreik.
Wie lange das Desaster rund um die “Prestige” noch dauern wird, ist unklar. Zur Zeit verliert das Wrack täglich weiterhin 80 Tonnen Öl – obwohl das französische Unterseeboot “Nautile” inzwischen diverse Lecks gestopft hat. Doch unter dem extremen Wasserdruck reisst der geschwächte Rumpf immer wieder von Neuem. Eine erprobte Lösung, wie die rund 50’000 noch in den Tanks liegenden Tonnen Schweröl abgepumpt werden können, gibt es nicht. Im Falle der 1993 vor Schottland gesunkenen “Braer” gaben die Behörden erst sieben Jahre nach der Katastrophe wieder sämtliche Muscheln zum Konsum frei. Im Nachgang der Havarie der “Exxon Valdez” zeigte sich, dass die Schäden durch das Öl einige Fischarten wider Erwarten noch über Generationen belasten werden. Ebenfalls jahrelang wird es gehen, bis die Fischer für ihren Verdienstausfall, für Aufräumarbeiten und Schäden an Aquakulturen die ihnen zustehenden Kompensationen erhalten. Zur Zeit steht nur ein Bruchteil des Geldes zur Verfügung: 20 Millionen Dollar von der Versicherung der “Prestige”, 30 Millionen Euro Soforthilfe von der EU sowie 180 Millionen vom Internationalen Fonds für die Kompensation von Ölverschmutzungen. Am 14. Januar hat die spanische Zeitung “El Pais” jedoch gemeldet, man schätze den Gesamtschaden aktuell auf 1 Milliarde Euro.
In Galizien bleibt den Menschen zur Zeit nur die Wut. „Hier lügen alle – ausser das Öl“ sagt der Freiwillige Andrés Salva, als er am Strand von San Vincente do Mar Ölklumpen in einen Kübel schaufelt. Salva, Mechaniker von Beruf, hat seine Ferien abgebrochen, um zu helfen. Der Geschichtslehrer Anxo Ricón Reguera, ein sanfter Mann mit Nickelbrille, “möchte am liebsten jemanden umbringen”. Und der Bankangestellte Antonio Mariño-Bosquero, erschöpft an einen Felsen gelehnt, fordert, “diese Sauerei darf nicht mehr auf den Meeren transportiert werden”. Was die Freiwilligen bislang gesammelt haben, wird mit Lastwagen abtransportiert. 130 Kilometer von den Stränden entfernt wird es wieder ausgeladen, in einer ehemaligen Kiesgrube bei Laracha. Das Loch ist umgeben von Absperrgittern, wie sie an Sportveranstaltungen üblich sind – als sei das hier eine Attraktion. Man werde es zu Asphalt verarbeiten, sagt ein einsamer Arbeiter, der mit einem Bagger in der zähen Masse wühlt. Wenig später geht er und eine seltsame Stille macht sich breit.
Der Untergang der “Prestige” bedeutet für die Region Galizien die dritte grosse Tankerkatastrophe. Am 12Mai 1976 war die “Urquiola” in der Nähe von La Coruña auf Grund gelaufen und später gesunken. Sie verlor 95’000 Tonnen Öl. Am 3. Dezember 1992 strandete dann in derselben Bucht die „Aegean Sea“. Sie brach nach einer Explosion auseinander. 80’000 Tonnen Öl liefen aus und verseuchten 200 Kilometer Küste. Die nächste Katastrophe wird nicht lange auf sich warten lassen. Zumindest solange, als Staaten wie Liberia – als Sitz der Mare Shipping Inc. – es ermöglichen, Schiffe mittels Briefkastenfirmen zu betreiben. 1000 Dollar kostet hier die Gründung einer Firma, Personalien müssen nicht bekannt gegeben werden, und die Verantwortlichen müssen sich auch nicht im Land befinden, was es den Hintermännernes erlaubt, sich nach einer solchen Havarie problemlos aus der Verantwortung zu ziehen. In Liberia sind heute, mit Ausnahme von Panama, weltweit am meisten Schiffe registriert. Allerdings wäre es falsch, die Schuld dafür dem kleinen Land in Westafrika zu geben, das mit dem Verkauf seiner Flagge die schmalen Einkünfte aufzubessern versucht. Als die International Transportworkers Federation – in ihr sind die Seeleute aus 136 Ländern organisiert – sich 1958 beim Internationalen Gerichtshof in Den Haag darum bemüht, die Anerkennung von Liberia als Flaggenstaat zu verhindern, sind es neben Russland und Amerika insbesondere die heutigen EU-Länder, die der Gewerkschaft Widerstand leisten. Mit Erfolg. Die nächste Katastrophe wird aber auch nicht lange auf sich warten lassen, solange die Schweiz Unternehmen wie der Crown Resources AG ein günstiges Steuerdomizil bietet und solange Finanzhäuser wie die Genfer oder die Waadtländer Kantonalbank die Ladung von Tankern unbesehen finanzieren. Und sie wird auch nicht lange auf sich warten lassen, solange Versicherungen weiterhin für Tanker wie die “Prestige” Haftpflichtpolicen ausstellen. Es liegt auch in ihrer Hand, Risiken mit Katastrophenpotential auszumerzen – denn ohne Versicherung kann kein Schiff auslaufen.
Diese Zusammenhänge haben auch Greenpeace, WWF und die International Transportworkers Federation erkannt. Bereits am 25. November 2002 haben sie gemeinsam einen Brief an Kofi Annan verfasst und den UN-Generalsekretär daraufhin gewiesen, der Untergang der “Prestige” sei nichts anderes als das “Symptom für viel tiefer liegende Probleme”. Ohne dass die “Wurzeln” dieser Probleme ausgerissen würden, werde sich nichts verändern.
© Januar 2003 Volkart Stiftung/Christian Schmidt
Dieser Text ist als Teil eines Langzeitprojektes des Autors Christian Schmidt und des Fotografen ManuelBauer über die Folgen der “Prestige”-Katastrophe entstanden, das die Volkart Stiftung, Winterthur, unterstützt. Weitere Informationen bei Kontrast (www.kontrast.ch) und Volkart (www.volkart.ch)