Fotografie: Manuel Bauer

Text: Bernard Imhasly, Christian Schmidt
128 Seiten, Hardcover
60 Fotografien in Schwarzweiss und Farbe
Zweisprachig deutsch/englisch
Gestaltung: Tania Prill, Alberto Vieceli
ISBN 3-906729-12-5
CHF 36.– + 9.00 Versandkosten

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Ausgezeichnet:

Schönste Schweizer Bücher 2002

 

Pressestimme:

Der Landbote, März 2003, Angelika Maass

«Vier Männer und eine Frau kommen in fünf Kurzporträts im schmalen Bildband zu Wort, der ein komplexes Thema anschneidet und mancherlei Fragen von allgemeiner Bedeutung aufwirft, die im beschränkten Rahmen des Buches natürlich nicht beantwortet werden können. Trotz der wenigen Textseiten – neben den Kurzporträts sind es das knappe Vorwort und ein neunseitiger Essay über die historischen und politisch-ökonomischen Zusammenhänge – und der nicht immer ausführlichen Bildlegenden ist erstaunlich viel über dieses viertausend Jahre alte Handwerk zu erfahren, das im vergangenen Jahrhundert im Kontext der indischen Unabhängigkeitsgeschichte so grosse Bedeutung erlangen sollte.

Ungleich umfangreicher als der Textteil ist der Bildteil gehalten, der in 47 expressiven Schwarzweissfotografien das eigentliche Handwerk, die Entstehung des Gewebes und dieses selbst schildert und in 26 Farbaufnahmen Einblick in Modeateliers gibt und in jenen Bereich, der sich mit dem «fertigen» Stoff auseinander setzt. Autor dieser Fotografien ist Manuel Bauer, ein Meister der klassischen Bildreportage, die schwarzweiss besonders intensiv spricht. Wir verfolgen einzelne Arbeitsschritte aus nächster Nähe, ganze Arbeitssitutationen: Das ist spannend und im ausschliesslichen Wechselspiel von Hell und Dunkel dem kunstvollen Produkt Khadi besonders angemessen.»

 

Leserprobe:

Das Weiss des Augustmondes

Von Christian Schmidt


«Martand Singh (*1947) ist Direktor des INTACH (UK) Trust, Ableger des Indian National Trust for Art and Cultural Heritage in New Delhi. INTACH ist die bedeutendste Nichtregierungsorganisation für kulturelle Belange in Indien. Nach seinem Kunststudium an der Universität in New Delhi arbeitete Singh als Designer für Pierre Cardin, Hanae Mori, Capucci u.a. Er war Kurator zahlreicher Ausstellungen, so von «Royal Costumes of India» im Metropolitan Museum of Art in New York und von «The Contemporatory Tradition», gezeigt im Victoria Albert Museum in London. 2002 organisierte er die Ausstellung «The fabric of our freedom» zum Thema Khadi. Singh, nebenbei auch Kunstberater der Weltbank, trägt meistens Khadi – in den Farben schwarz, weiss oder ecru. «Meine Beschäftigung mit Khadi nenne ich meinen Schwanengesang. Es ist das letzte Thema, dem ich mich widme, oder sagen wir, es ist zumindest die letzte Textilie, denn ich fühle mich bereits ziemlich alt. Zum Abschluss dieser Lebensphase habe ich das richtige Thema gefunden: Nichts erreicht die Feinheit und Ausgewogenheit eines Stoffes, der handgewoben und handgesponnen ist. Ich mag falsch liegen, doch ich habe viele Textilien berührt, und die Berührung wird mir immer wichtiger, je mehr ich darüber nachdenke; sie wird mir wichtiger als der visuelle Eindruck. Was fühle ich? Was sagen mir diese Fasern? – Ich habe die Frauen in den Dörfern Indiens beobachtet. Sie suchen immer nach den besten Stoffen, weil sie ihren Kindern die feinsten Kleider anziehen wollen, handgesponnene und handgewobene. Niemand weiss besser als sie, was gut ist.

Khadi ist der Endpunkt einer langen Geschichte. Begonnen hatte meine Reise ins Land der Textilien, als ich noch ein kleines Kind war. Aufgewachsen als Sohn eines Prinzen und einer Prinzessin – mein Grossvater war Maharadscha –, sah ich die auserlesensten Stoffe. Meine Familie besass unzählige dieser wunderschönen indischen Brokatmäntel, und täglich sah ich meine Mutter in ihren Saris. Die Stoffe eröffneten mir eine neue Welt. Weil ich ganz in sie eintauchen wollte, änderte ich meine Lebenspläne. Ich entschied, die Pläne für eine Ausbildung in Cambridge aufzugeben und in Indien zu studieren. Dabei verliebte ich mich. Ich verliebte mich in dieses Land. Ja, eine Frau spielte auch eine Rolle. Sie zeigte mir Indien, sie wurde mein Guru. Sie erzählte mir, welche Rolle das Weben in den indischen Sagen über die Entstehung der Welt spielt: Die Kettenfäden sind die Sonne, die Schussfäden der Mond. Sonne und Mond weben den himmlischen Teppich. Von ihr lernte ich nach dem Gehör zu erkennen, welchen Webstuhl, welches Schiffchen ein Weber benutzt und welcher Stoff gerade entsteht. Eine Textilie hört man zuerst! Ich lernte die Stoffe am Geruch zu unterscheiden: Wie sehr anders riecht Baumwolle verglichen mit einem Seidenkokon oder der Wolle eines Schafes. Ich lernte zu verstehen, welche unterschiedliche Bedeutungen die Farben der Stoffe haben – dass es in Kerala fünf verschiedene Weiss gibt: das Weiss des Augustmondes, das Weiss der Jasminblüte, das Weiss der Meeeresgischt, das Weiss der Kegelmuschel und das Weiss der Wolken, nachdem sie sich ausgeregnet haben. Weiss ist die wichtigste Farbe, denn aus dem Weiss des Eis entsteht die Farbenpracht des Pfaus.

Khadi entdeckte ich mit knapp dreissig Jahren. Ich begann mich damals neu zu orientieren, weg von der europäischen Erziehung, die ich in meinem Elternhaus erhalten hatte, und damit auch weg von den Kleidern des Westens. Um es klar zu sagen: Bedeutet hatte mir die europäische Mode nie viel. Die Kleider waren zwar «in», aber das wars. Ich begann nun Kurta und Paijama* zu tragen, die traditionelle indische Kleidung. Der Entscheid fiel aber nicht aus politischen Gründen, obwohl ich Gandhis Idee der Gewaltfreiheit unterstütze und ein Stück der neueren Geschichte Indiens mit diesem Stoff geschrieben werden kann. Ich trage Khadi, weil der Stoff bequem ist – und weil er sich so unglaublich anfühlt. Ach, nichts ist leichter und luftiger an einem heissen Sommertag. Und was würde ich tun ohne das Halstuch, mit dem ich die Stirn tupfe! Das Erstaunlichste an Khadi ist aber, dass der Stoff umso bequemer wird, je älter er wird. Er gewinnt an Feinheit. Der Stoff ist ein Hauch auf der Haut. Am besten gefällt er mir im Weiss des Augustmondes.

Für Khadi setze ich mich nicht nur ein, weil es ein wunderbarer Stoff ist. Es ist auch sehr viel handwerkliches Wissen damit verbunden. Der Stoff darf nicht verschwinden. Es ist wie mit den bedrohten Tierarten. Sterben die Tiger aus, wird es nie mehr Tiger geben. Die Welt wird ärmer. Gehen Fähigkeiten verloren, weil kein Bedarf mehr besteht, so soll man den Dingen ihren Lauf lassen. Ist aber Ignoranz die Ursache, wie bei Khadi, so ist das traurig. Nichts spiegelt die Kultur eines Landes so gut wie Kleider – und Architektur. Wir leben in Häusern, und unser ganzes Leben lang sind wir von Stoffen umgeben. Die Kenntnisse der Weber und Spinnerinnen zählen für mich deshalb zum kulturellen Erbe dieses Landes. Ich habe selbst spinnen gelernt, um zu erfahren, was es bedeutet. Es ist faszinierend. Wenn du wirklich dabei bist und in deinem Kopf die Gedanken so stetig fliessen wie sich der Faden auf die Spindel wickelt, so tauchen bald existentielle Fragen auf: Wer bin ich? Woher komme ich? Ich habe auf diese Weise viel über mich erfahren. Bis dahin hatte ich angenommen, meine Zeit kontrollieren zu können. Jetzt weiss ich, dass das nicht stimmt.

Wenn ich Khadi als meinen Schwanengesang bezeichne, so bedeutet das, dass ich ein sehr langes Sabbatical nehmen werde. Vielleicht muss ich mein Leben auf den Kopf stellen. Vielleicht werde ich Dinge lernen, von denen ich heute noch nichts weiss. Aber sicher werde ich zum Geschichtenerzähler. In der indischen Tradition gibt es diese Figur. Ich werde all den jüngeren Menschen, welche die Welt so anders sehen, über die Welt der Textilien erzählen. Ich werde Ihnen mein Leben als eine Reise erklären, eine Reise gewoben aus Stoffen.» 
*Paijama ist die indische Männer- und Frauenhose. Die Tageshose wurde zur Vorlage für den im Westen gebräuchlichen Pyjama (Schlafanzug).»