Dalai Lama

Der Fotograf und der Meister
von Matthieu Ricard

Man kann sagen, was man will: die Fotografie, insbesondere die Porträtfotografie, ist eine Form der Zudringlichkeit.
Trotz Seiner Offenheit und Seines grossen Entgegenkommens flösst Seine Heiligkeit der Dalai Lama in aussergewöhnlichem Mass Respekt ein. Einem Fotografen ist es also nicht möglich, Ihn wie irgendein anderes Sujet zu behandeln. Um den Dalai Lama bildlich festzuhalten, wäre man am Besten unsichtbar und unhörbar. Auf diese Weise könnten unsere Augen ein vollkommenes Foto von ihm machen.

Wie diskret auch immer der Fotograf den Auslöser seiner Kamera drückt: Es braucht eine Art innere Erlaubnis, um in die Aura eines Wesens, für das man höchste Wertschätzung empfindet, eindringen zu können. Man muss spüren, wie man der Schönheit seine Reverenz erweist ohne sie zu besudeln. Und man muss erkennen, wie man die Inspiration des Augenblicks mit anderen teilt, ohne diesen Moment für ein Foto zu missbrauchen.
Ich habe Manuel Bauer bei der Arbeit erlebt. Auch unter schwierigsten Bedingungen gelingt es ihm, Zurückhaltung und Demut mit einem aufmerksamen Blick zu verbinden, dem nichts entgeht. Manuel weiss, wie man sich unsichtbar macht und doch präsent ist, wenn der magische Moment, der nicht wiederkehrt, sich darbietet. Dies ist keine leichte Aufgabe. Da sind die strikten Sicherheitsmassnahmen zum Schutz Seiner Heiligkeit, der die tibetische Sache verkörpert. Da ist Sein strenger Zeitplan, und da sind die unablässigen Reisen. Bauer erweist sich angesichts dieser Schwierigkeiten als sehr gewandt. Er beherrscht es auch, die Heiterkeit des Dalai Lama in Momenten der Besinnung und der inneren Sammlung zu nutzen, Momente, in denen ein Fotograf rasch als störend empfunden wird. Ich habe selber während über dreissig Jahren meinen spirituellen Meister fotografiert und weiss, wie schwierig es ist, durch den Sucher zu schauen, anstatt einfach die Fülle der Gegenwart zu geniessen. Doch der Wille, diesen Reichtum mit anderen zu teilen, ist oft stärker als der Wunsch, die erfahrene Heiterkeit um einige Augenblicke zu verlängern.
In Anwesenheit eines spirituellen Meisters muss sich der Fotograf derselben Eigenschaften befleissigen, die man von einem Schüler erwartet. Gleich einem Schwan, der auf einem Teich treibt ohne die Lotusblüten zu stören, muss der Fotograf behutsam vorgehen, so dass er eher auf ein Foto verzichtet, als aufdringlichzu erscheinen. Und wie eine Brücke, die alle Passanten trägt, muss er alle Umstände ertragen, die angenehmen und die widrigen. Er muss sein wie ein Schiff, das bei jedem Wetter unbeirrt seine Spur zieht.

Und wie der Schüler muss auch der Fotograf die sechs buddhistischen Paramitas (Vollkommenheiten) beherzigen: Grosszügigkeit, Disziplin, Geduld, Ausdauer, Konzentration, Weisheit. Manuel ist grosszügig, wenn er allen Menschen unvergessliche, bewegende Bilder Seiner Heiligkeit darreicht. Die Disziplin erlaubt Manuel, die Grenze zur Aufdringlichkeit zu erkennen. Seine grosse Geduld ermöglicht es ihm, stundenlang auszuharren und doch bereit zu sein, sich in ein Geschehen einzufügen, über das er keine Kontrolle hat. Er muss imstande sein, tage- und monatelang auf jene Fotografie zu warten, von der erträumt. Er ist ausdauernd, wenn er im Morgengrauen aufstehen und den ganzen Tag unterwegs sein muss. Er ist konzentriert, wenn es darum geht, unter schwierigsten technischen Bedingungen ein gutes Foto zu machen. Und weise ist er, wenn er heiter bleibt, wenn er die Dinge geniesst ohne ihnen zu verfallen, wenn er seine persönlichen Bedürfnisse zurückstellt und wenn er die Früchte seiner Arbeit mitanderen teilt.
Der Fotograf sollte den Moment mit jenem Feingefühl erhaschen, mit dem man eine Mohnblume pflückt ohne die Blütenblätter zu zerstören. Mit jenem Entzücken, mit dem man einem klingenden Kristallglas lauscht ohne seinen Klang verstummen zu lassen. Der Fotograf muss präsent sein ohne aufzufallen. Er muss sich dem Meister anpassen und intuitiv die Grenzen erkennen, die ihm auferlegt sind. Und schliesslich das Schwierigste: Der Fotograf muss es verstehen, mit dem Meister die humorvollen, freudigen und besinnlichen Momente zu teilen.
Im Laufe der Jahre und dank dem privilegierten Zugang, den ihm der Meister und Seine Umgebung gewährt haben, hat Manuel beharrlich und kunstvoll, mit Sensibilität und Humor Bilder geschaffen, die die Welt inspirieren und bewegen. Er hat ein einzigartiges und unersetzliches Porträt einer herausragenden Persönlichkeit der Menschheitsgeschichte entworfen. Dafür sei ihm gedankt.

Übersetzung: Georg Sütterlin